Am Tag 14 ging es für mich von dem kleinen Dörfchen Rabe des las Calzadas nach Castrojeriz. Ich war froh, morgens aus meiner Ferienwohnung, die sich in einem vollständig leerstehenden Ferienkomplex befand, herauszukommen. Das Apartment hatte ungefähr den Charme eines Kellerabteils.
Der Weg zog sich – was nicht nur daran lag, dass ich an diesem Tag allein lief – in die Länge. So war ich froh, als ich gegen Nachmittag meinen Zielpunkt erreicht hatte. Aber irgendetwas war an diesem Tag anders gewesen. Die Landschaft hatte sich merklich verändert. Nicht nur, dass meine Sportuhr weniger Höhenmeter anzeigte als sonst, die Pfade waren nun meistens gerade und führten durch grüne Felder. Ein Blick auf Google Maps verriet mir: ich war in der Meseta angekommen.
Als Meseta wird das ca. 200.000 qkm große kastilische Hochland bezeichnet, das mitten in Spanien liegt. Meine Recherche vor Beginn meines Abenteuers hatte ergeben, dass viele Pilger die Meseta überspringen und mit dem Bus bis Lyon fahren. Die Begründungen hierfür reichten von „langweilig“, Zeitverschwendung“ bis hin zu „hässlich“; aber auch „das macht etwas mit deinem Kopf“ war zu lesen. Ich glaube, dass die Sorge, diese Strecke könnte sich mental auswirken, für die meisten Pilgernden ausschlaggebend ist, diese Etappe auszulassen. Wenn man fünf bis sieben Tage allein durch monotone Landschaft läuft, fängt man gezwungenermaßen damit an, sich mit sich selbst und seinen Lebensumständen zu beschäftigen. Das mag nicht jeder, mich dagegen hat es nicht abgehalten, diesen Weg zu gehen.
Und was war bei mir passiert? Nichts! Ich hatte nicht mal gemerkt, dass ich nun in der Meseta unterwegs war.
In Castrojeriz angekommen, checkte ich in ein sehr schönes Hotel ein, da ich in den nächsten Tagen wieder in Gruppenzimmern mit gemeinsamen Bad schlafen würde. Nachdem meine Wäsche nach dem fünften Versuch (ich war offensichtlich nicht der Einzige, der den Komfort eines Waschraums mit Waschmaschine nutzen wollte) endlich in der Waschmaschine war, sprachen mich im Garten des Hotels zwei amerikanische Damen an. Mutter und Tochter, wie sich im weiteren Gespräch herausstelle, absolvierten den Camino auf ihre Art: große Koffer, die mit einem Kurier von Station zu Station geschickt wurden, tagsüber ein kleines Täschchen – das auch auf der Düsseldorfer KÖ nicht aufgefallen wäre – und die besten Unterkünfte entlang des Caminos. Die beiden saßen schon, den beiden Weinflaschen auf dem Tisch nach zu urteilen, einige Zeit beisammen. Ich wurde in energischem Ton eingeladen, mich dazuzusetzen. Der Wein schmeckte zwar, aber so sehr ich auch versuchte, mit den beiden Amerikanerinnen in einen Gedankenaustausch zu kommen, so richtig gelingen wollte es mir nicht. Ich durfte mich zu Themen wie Ukraine- Krieg, die Mauer an der Grenze zu Mexiko, europäische Architektur, Trump und alt- griechische Geschichte belehren lassen. Die beiden wurden nicht müde, die absurdesten Vergleiche anzustellen, so dass ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus kam. Es bot sich ein Weltbild und Selbstverständnis dar, dass ich als – sagen wir mal – befremdlich empfand. Ich glaube, da würden auch ein paar Tage in der Meseta nicht helfen.
Ihr Abendessen wollten die beiden Damen im besten Restaurant des Ortes einnehmen. Ich begnügte mich mit einem Abendessen im Hotel. Als die beiden später ins Hotel zurückkamen, waren sie nicht mehr so voll des Lobes für ihre Restaurantwahl. Ich hatte offenbar für weniger Geld ein besseres Essen genossen.
Am nächsten Tag lief ich zeitig los, da eine Strecke von 30 Kilometern vor mir lag. Der Weg war nicht allzu anspruchsvoll, aber so richtig in den Tritt kam ich nicht. Bei meiner Ankunft war ich dann auch ziemlich gerädert. Eine ca. 2 km lange Umleitung aufgrund einer Großbaustelle hat ihren Teil dazu beigetragen, dass mir dieser Tag als eher durchschnittlich in Erinnerung bleiben wird.
Beim Abendessen setzte ich mich zu zwei Deutschen aus Sachsen und einem älteren Brasilianer, die in Burgos gestartet waren. Der Brasilianer hatte den Weg bereits einmal absolviert. Bereits da hatte er beschlossen, den Camino ein zweites Mal zu gehen. An ein weiteres Mal denke er aber nicht. Er prophezeite mir, dass ich den Jakobsweg ganz sicher auch noch einmal gehen würde.
Doch im Augenblick bin ich einfach froh, wenn ich das erste Mal wohlbehalten an meinem Ziel ankomme.