Weiterhin: Nichts!
Auch in den folgenden drei Tagen bin ich durch die schöne, aber auch monotone Landschaft der Meseta gelaufen. Mal ging es über staubige Pfade, mal über steinige Landwirtschaftswege und mal entlang von Landstraßen – aber immer geradeaus.
Während ich Kilometer für Kilometer abspulte und über Gott und die Welt nachdachte – wobei mir die alles verändernde Erkenntnis weiterhin nicht gekommen ist – fielen mir meine beiden Amerikanerinnen wieder ein. Was für ein Bild die beiden von sich und ihrem Land, das sich immerhin selbst als „die“ führende Nation der Welt definiert, gezeichnet hatten. Mir fiel ein, dass ich mir vor einiger Zeiten das von dem ehemaligen Präsidenten Barak Obama geschriebene Buch „Ein verheißenes Land“ gekauft hatte, mich die knapp 1.000 Seiten dann aber doch immer wieder davon abgehalten hatten, mit dem Lesen zu beginnen. Nun hatte ich die Zeit dafür. Ich habe mir also – während ich gelaufen bin – das 37 Stunden lange Hörbuch zum Buch heruntergeladen und es mir vorlesen lassen. Vielleicht hilft mir dieses Werk dabei, die beiden Amerikanerinnen richtig „einzuordnen“.
Am Abend des siebzehnten Tages hat es mich in kleines Hostel verschlagen. Und das kam so:. Ich hatte in einem kleinen Ort angehalten, um einen Kaffee zu trinken, und war, trotz meiner schmerzenden Gelenke und Sehnen froh, nicht in diesem Dorf übernachten zu müssen, in dem ganz offensichtlich der Hund begraben war. Ich lief also weiter. Am Ortsausgang stutzte ich. Hieß mein Hostel nicht genauso wie die Bar, in der ich gerade gesessen hatte? Ein Blick auf die Reservierungsbestätigung schaffte Klarheit. Heute würde ich Hund und Katz gute Nacht sagen müssen.
Der Wirt war amüsiert mich wiederzusehen und wollte von mir wissen, ob es mir bei ihm so gut gefallen hätte, dass ich nun doch umgekehrt sei. Mein schmallippiges Lächeln ließ sich so oder so interpretieren. Nach dem Einchecken erwartete mich ein kleiner Raum mit drei Betten und eine Dusche mit WC im Erdgeschoss auf der anderen Seite des Innenhofes. 18 Euro – you get what you pay.
Zum Hostel gehörte nicht nur die Bar, sondern auch ein kleines Geschäft, das auf Einheimische und Pilger eingestellt war. Ein kurzer Spaziergang durch den Ort – nur um zu checken, ob die entzündungshemmende Salbe auf meinen Beinen ihre Wirkung tat – bestätigte, dass hier rein gar nichts los war. Erneut im Hostel angekommen, erkundigte ich mich, ob ich noch einen Tisch fürs Abendessen reservieren könne. Auf die Frage des Wirtes, wann ich denn zwischen 18.30 und 21 Uhr essen wolle, bat ich um eine Tischreservierung für 20 Uhr. Mit den Worten: „Da sind die meisten da“ hat er mich schließlich für 19.00 Uhr in den Kalender eingetragen. Und tatsächlich war das kleine Restaurant mit 10 Sitzplätzen pünktlich um 19 Uhr mit 20 Personen belegt. So „stapelten“ wir uns in dem kleinen Raum. Ich wurde angewiesen, mich an den Tisch eines älteren Franzosen zu setzen, von dem ich den Eindruck hatte, dass er etwas Englisch sprechen würde. Tatsächlich umfasste sein Wortschatz in dieser Sprache nicht mehr als die beiden Sätze, die ich von ihm gehört hatte. Erstaunlicherweise ist es uns mittels Google Translate trotzdem gelungen, in den Pausen zwischen den Gängen ein interessantes Gespräch miteinander zu führen. Jacques, 61 Jahre alt, stammte aus einem Ort hinter Reims. Er war am 01.04. in den Ruhestand gegangen. Am 02.04. hatte er seinen Rucksack gepackt und sich von zuhause aus auf den Weg in Richtung Santiago gemacht. Er war jetzt schon mehr als zwei Monate unterwegs. Warum genau, konnte oder wollte er nicht sagen. Als er davon „schrieb“, dass er sich unglaublich auf seine Frau und seine drei Töchter freuen würde, kamen ihm die Tränen. Er berichtete davon, dass er körperlich und mental völlig am Ende sei und einfach nach Hause wolle. Aufgeben schien aber auch für ihn keine Option zu sein. Er zeigte mir ein Foto, das vor Beginn der Pilgertour entstanden war. Da war er noch 29 Kilo schwerer. Wenn er sich heute im Spiegel ansähe, würde er sich selbst nicht wiedererkennen, sagte er und fuhr mit einem Augenzwinkern fort, dass die braungebrannte, hagere Person, die er jetzt im Spiegel sähe, ihn eher an einen kenianischen Marathonläufer erinnere. (Anmerkung: An dem darauffolgenden Tag, meinem Tag 18, habe ich Jacques, der morgens vor mir gestartet war, auf dem Pilgerweg überholt. Die inzwischen über 1.000 Kilometer hatten sichtbare Spuren hinterlassen. Der Mann, der sich nur noch mit kleinen Schritten fortbewegte, hatte wenig mit dem Mann gemein, den ich den Abend zuvor kennengelernt hatte).
Nun noch ein Wort zu unserem Menü und dem Service. Der Herbergsvater – der nicht nur die Bar und das kleine Geschäft schmiss, sondern auch den Service im Restaurant und die Küche zu verantworten hatte, tischte uns auch unsere drei Gänge (Spaghetti, Paella, Eis), auf. Er war dabei flott unterwegs; denn wenn einer der fünf Mikrowellen in der Küche einen Ton von sich gab, musste er in die Küche rennen, die Teller befüllen und nach draußen tragen.
Am Nachbartisch saßen eine Frau und ein Mann um die 60. Er hatte ordentlich zur Seite gelegte Haare und einen kleinen Schnauzer. Seine Frau passte zu ihm. Wenn die beiden sich unterhielten, was nicht oft geschah, dann taten sie das in einem Ton, den ich eher beim Militär erwartet hätte. Wenn der Herbergsvater/Ladenbesitzer/Barmann/Koch/Kellner zu den beiden an den Tisch trat, sprachen sie konsequent Deutsch mit dem armen Mann, der offensichtlich nur ein paar Worte Englisch und eben Spanisch beherrschte. Meine Spanischkenntnisse sind zwar rudimentär, aber ein „Gracias“ bekomme ich gerade noch so hin. Mein Tischnachbar bedankte sich für jeden Gang, der an den Tisch gebrachte wurde, in militärischem Ton mit „Vielen Dank, mein Herr“.
Als es schließlich Zeit war, mein Dreibettzimmer aufzusuchen, lagen alle anderen bereits in ihren Betten. Ich beeilte mich, das Licht auszumachen. Da lag ich nun, ließ die letzten drei Tage Revue passieren und schlief schließlich unter den leisen „Flatulenzen“ meiner chinesischen Bettnachbarin ein.