Als ich am 28. Mai gestartet bin, lagen bis nach Leon noch drei Tage Meseta vor mir. Danach sollte die Landschaft wieder abwechslungsreicher werden und einige Höhenmeter bieten. Nun jedoch ging es erst noch einmal geradeaus. Zwischendurch wechselte ich von dem Pfad, der parallel zu der Landstraße verläuft, auf die Straße, um zumindest etwas Abwechslung beim Untergrund zu haben. Autos fahren nur sehr unregelmäßig auf dieser Straße, also hielt sich die Gefahr, überfahren zu werden, in Grenzen. Mal lief ich mit Barak Obama auf den Ohren, mal mit Musik und zwischendurch einfach so. Wenn man ohne Ablenkung läuft, melden sich recht schnell die Beine, die erstaunlicherweise bei diesen „einfachen“, monotonen Stecken mehr schmerzen als auf abwechslungsreicheren Abschnitten.
Die Nacht auf Tag 19 hatte ich in einem kleinen Hostel in Sahagun verbracht. Das – ich nenne es mal Western-Hostel – war nur schwer zu toppen. Ich merkte jede Feder in der Matratze und das Bett quietschte bei der kleinsten Bewegung. Morgens wachte ich, der Wecker hatte noch nicht geklingelt, durch ein gut hörbares Quietschen auf. Das kam aber diesmal nicht von meinem Bett, sondern von links, rechts, über und unter mir. Da ich ausschließe, dass normale Touristen sich nach Sahagun verirren, konnte es nur von anderen Pilgernden kommen. Gut aufgewärmt, pilgert es sich doch gleich leichter …
Der Tag verlief dann ereignislos – Meseta halt. Am späten Nachmittag schrieb mir die Betreiberin der Gruppenunterkunft, in der ich mich in Reliegos eingebucht hatte, ob ich am gemeinsamen Abendessen teilnehmen würde. Es sollte vegan gegessen werden. Mangels Alternativen in dem kleinen Ort sagte ich zu und lief die letzten 10 Kilometer mit dem Wissen, das abends eine Schüssel Grünzeug („Unkraut“) auf mich warten würde.
Dort angekommen, setzte ich mich zu den anderen Pilgerinnen und Pilgern in den Garten der Unterkunft und erkannte auch den Einen oder die Andere wieder. Als die äußerst alternative Betreiberin (sie hatte sich während ihrer wilden Jahre selbst tätowiert und hatte dabei auch vor ihrem Gesicht nicht halt gemacht) mit den Einkäufen für das Abendessen zurückkam, checkte ich in mein 10-Bett-Zimmer ein. Für Spanier viel zu früh, für einen Deutschen genau richtig, gab es um 18 Uhr Abendessen. Sah nicht überzeugend aus, schmeckte dafür aber umso besser. Wir teilten uns ein paar Flaschen Wein am Tisch und saßen noch bis spät abends im Garten der Herberge.
Am nächsten Morgen hieß es dann wieder: Beat the Street. Voller Vorfreude auf Leon startete ich früh und erreichte am frühen Nachmittag meinen Zielort. Da mein Zimmer noch nicht fertig war, setze ich mich in den Hof eines alten Klosters und wartete bei Bier und Tapas.
Den Nachmittag verbrachte ich in Leon und schaute mir die Stadt an – kann ich für einen Städtetrip wärmstens empfehlen. Als ich in Gedanken und auf der Suche nach einem Restaurant über die Haupteinkaufsstraße schlenderte, hörte ich eine Stimme hinter mir: „Hey, young man!“ Die kann ja nicht mich meinen, dachte ich mir, und lief weiter. Aber die Stimme meinte mich; denn als ich mich schließlich umdrehte, stand da Lucy. Lucy hatte ich an meinem Anreisetag am Flughafen in Pamplona kennengelernt. Wir hatten in der Warteschlange am Taxistand miteinander Bekanntschaft gemacht und uns ein Taxi in die Stadt geteilt. Nach einer unterhaltsamen Fahrt hatte ich das Taxi von dem Bargeld, das sich noch in meinen Hosentaschen fand, bezahlt. Danach habe ich Lucy nie wieder gesehen und aufgrund ihrer eigenen Pläne hinsichtlich des Jakobsweges auch nicht damit gerechnet, sie nochmals zu treffen.
Für mich war die Einladung zur Taxifahrt eine so unwesentliche Selbstverständlichkeit, dass ich sie schon fast wieder vergessen hatte. Lucy jedoch bestand darauf, mich auf ein Bier einzuladen. Sie sagte mir, dass sie darauf gehofft hatte, mich noch einmal zu sehen, bevor sie wieder nach Australien fliegen würde. Sie hatte ihrer erwachsenen Tochter erzählt, dass ich die Kosten für die Taxifahrt für uns beide übernommen hatte und sie sich nicht sicher wäre, sich bei mir bedankt zu haben. Es überraschte mich, als sie mir mit Tränen in den Augen versicherte, von einem Fremden schon lange nicht mehr so nett behandelt worden zu sein. Und eh ich mich versah, befand ich mich mit ihr in einer ernsthaften Diskussion über Gott und die Welt – wobei ich eigentlich eher der Zuhörer war.
Es stellte sich heraus, dass ich Lucys erster und letzter Pilger-Kontakt auf ihrem Jakobsweg gewesen bin. Moral der Geschichte: Be nice! Du weißt nie, was für große Wellen kleine Gesten schlagen können.