Tag 30 und 31 (08.-09.06.2024): Letting go.

Der Tag 30 meiner Reise führte mich von Triacastela nach Sarria. Es hatte am Abend und nachts geregnet. Als ich morgens aufbrach, hing schwerer Nebel in der Luft. Der Regen hatte den Pfad aufgeweicht und teilweise in einen kleinen Bach verwandelt. Da es einen zweiten, etwas längeren Alternativweg zum Jakobsweg auf dieser Passage gibt, war auf dem kürzeren und schwergängigen Weg entsprechend wenig los. Obwohl es teilweise recht rutschig war, kam ich gut voran. Gegen Mittag, als ich etwa die Hälfte des Weges geschafft hatte, lief ich an einem kleinen Hinterhof vorbei (den ich fast übersehen hätte), der „interessant“ aussah. Hier hatte sich eine kleine Kommune (Ökodorf) breitgemacht und empfing und verköstigte Pilgernde auf Spendenbasis. Aus der anfänglichen Neugier wurde, trotz der Kälte und des Nebels, eine fast einstündige Pause.

Hätte ich gewusst, was mich in Sarria erwartet, dann hätte ich mir beim Laufen etwas mehr Zeit gelassen. Der kleine Ort, von dem man auf die letzten 100 Kilometer des Jakobwegs startet, war zum Bersten voll. Nachdem ich in die Pension eingecheckt hatte, lief ich in die Altstadt und schaute mir die aufgeregt umherlaufenden „Neu-Pilger“ an, die sich am nächsten Tag mit mir auf den Weg machen würden. Zum Glück entschied ich mich für ein frühes Abendessen, denn als ich bezahlte, stand schon eine Schlange Hungriger vor der Pizzeria. Wie ich später von meiner Gastgeberin erfuhr, starten täglich 2.500 und mehr „Büßer“ auf die letzten 100 Kilometer.

Am folgenden Tag ging Ich extra spät zum Frühstück, um die chinesische Frühstücksschlacht zu verpassen. Im Frühstücksraum war es jedoch erstaunlich ruhig. Die angekündigte chinesische Reisegruppe war nicht angereist. So saßen wir zu viert im eingedeckten Speiseraum – die Inhaberin des Hotels, ein Ehepaar aus Uruguay und ich. Wir waren die einzigen, die an diesem Morgen ihren Weg beginnen würden. Ich kam mit dem Ehepaar ins Gespräch und wir stellten fest, dass die beiden in dem Ort wohnten, in dem ich vor zwei Jahren zu tun hatte. Auch das Restaurant, in dem ich dort vermutlich das beste Steak gegessen hatte, war den beiden bekannt und gehörte einem guten Freund der Familie. So klein ist die Welt. Die beiden fragten mich, was meine „Camino-Erkenntnisse“ wären. Die fasste ich dann so zusammen: „Letting go“. Auf dem Jakobsweg entwickelt jeder, der über mehrere Tage und Wochen läuft, sein ganz eigenes Tempo. Mal harmoniert die eigene Laufgeschwindigkeit mit der anderer Pilgernder und man geht kürzere oder auch längere Strecken gemeinsam. Mal hinterlassen diese kurzen oder langen Begegnungen Spuren. Dann wieder läuft man viele Kilometer zusammen und, wenn man sich trennt, um allein weiterzulaufen, ist es, als hätte es die gemeinsamen Kilometer nicht gegeben. Eben eine unbedeutende Begegnung. Als ich versucht habe schneller zu laufen, um noch etwas Zeit mit einem interessanten Wegbegleiter zu verbringen, endete das für mich mit einer Blase. Als ich durch die Landschaft „gekrochen“ bin, um noch etwas Zeit mit einem etwas langsameren Mitläufer zu verbringen, hat mich dieses ungewohnte Tempo mit schmerzenden Gelenken abgestraft. Die Lösung: Letting go. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf unseren „Lebensweg“ anwenden, aber das soll hier ja ein Reiseblog bleiben und kein philosophischer Exkurs.

Als ich mit der Erläuterung meiner Erkenntnis fertig war, liefen meiner Gastgeberin die Tränen über die Wangen. Ihr Mann hatte sie im letzten Jahr verlassen, mit dem Ergebnis, dass sie in Folge der Trennung fast ihre Pension verloren hätte. Es war ihr schwer gefallen loszulassen. Durch einen Fremden vor Augen geführt zu bekommen, dass man manchmal genau das tun muss, schien sie bewegt zu haben. Als wir uns verabschiedeten, bedankte sie sich für das Gespräch.

Vielleicht ist das mein „Camino-Moment“ gewesen, gerade die Begegnung, an die Pilgernde sich erinnern.

Ich schnappte mir meinen Rucksack und machte mich mit zig hundert anderen Menschen auf den Weg in Richtung „100-km-Markierung“. Schulklassen, unendlich viele asiatische Reisegruppen und hunderte Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedener Nationalitäten bahnten sich den Weg aus der Stadt heraus und den ersten Berg hoch. Ich ging vorbei an den ersten Pilgernden, die japsend am Wegesrand saßen und aufgaben, noch bevor sie überhaupt so richtig begonnen hatten.

Meine Hoffnung, die Menschenmassen würden sich etwas verlaufen, erfüllte sich nicht. Ich war es gewohnt, ohne große Entourage in meinem Tempo zu laufen, und musste nun anderen Pilgernden ausweichen, sie überholen oder langsam hinter größeren Gruppen herlaufen. Schon nach der Hälfte der Strecke merkte ich, dass ich den Tag nicht ohne neue Blasen beenden würde. Meine Knochen fingen wieder an zu schmerzen. Als ich in Portomarin ankam, war ich völlig am Ende. So beendete ich den Tag nach einem kurzen Abendessen (vor dem Restaurant standen die „neuen Pilger“ Schlange, als ich mein frühes Abendessen beendete). Meine besten Freunde an diesem Tag: Tape und Voltaren.